Sechs Monate ausschließliches Stillen ermöglichen – für die Gesundheit der Kinder und der Mütter
Stellungnahme
Utta Reich-Schottky für das DAIS – Deutsches Ausbildungsinstitut für Stillbegleitung Februar 2018
WHO, UNICEF und führende Fachgesellschaften fordern weltweit, sechs Mona- te ausschließliches Stillen zu ermöglichen und zu ermutigen. In Deutschland werden Mütter häufig daran gehindert, dieses Ziel zu erreichen – auch durch die Handlungsempfehlungen von „Gesund ins Leben – Netzwerk Junge Familie“ und ihre Umsetzung.
Internationale und deutsche (Rebhan et al 2009) Studien und Expertengremien kommen immer wieder zu dem Ergebnis: Sechs Monate ausschließliches Stillen ist eine sinnvolle Empfehlung (AAP 2012, ESPGHAN 2017, Kramer et al 2012, NHS UK 2018, Smith et al 2016, WHO 2017 u.a.). Die Nährstoffe reichen für diese Zeit (Butte et al 2002). Früherer Beikostbeginn erhöht die Infektanfälligkeit, auch in Industrielän- dern (Chantry et al 2006, Ladomenou et al 2010, WHO 2017 u.a.).
Mit ungefähr sechs Monaten erreichen die meisten Kinder die Beikostreife, einen Entwicklungsschritt wie Laufen lernen. Sichtbare Anzeichen sind das Nachlassen des Zungenstoßreflexes, die Fähigkeit, mit Unterstützung sitzen zu können, und die Auge-Hand-Koordination mit gezieltem Greifen und in-den-Mund-Stecken. Der Ma- gen-Darm-Trakt und das Immunsystem entwickeln sich ebenfalls dahingehend. Die verschiedenen Entwicklungslinien scheinen alle mit ungefähr sechs Monaten zu- sammenzulaufen. Nur wenige Kinder erreichen alle diese Meilensteine vor sechs Monaten, viele erst etwas danach. (Cattaneo et al 2011, Naylor et al 2001).
Auch der Gesundheit der Mütter kommt längeres und ausschließliches Stillen zugute (Victora et al 2016, Farland et al 2017 u.a.).
Allergien
Für Beikostbeginn vor 6 Monaten wird öfter ins Feld geführt, dass dies der Allergie- vorbeugung diene. In Bezug auf Zöliakie wurde dies inzwischen widerlegt (Silano et al 2016). Bei Erdnüssen scheinen die wenigsten Allergien aufzutreten, wenn die Mut- ter sie während der Stillzeit gegessen und das Kind vor einem Alter von 11 Monaten selber Erdnüsse bekommen hatte (Pitt et al 2017). Bei Erdnüssen und Hühnereiweiß scheint die Einführung zwischen 4 und 6 Monaten die Allergiehäufigkeit gegenüber einer Einführung ab 6 Monaten nicht signifikant zu verringern (SACN). In den deut- schen Handlungsempfehlungen heißt es: „Insgesamt erscheinen Vorteile einer Bei- kosteinführung vor dem Beginn des 7. Lebensmonats für die Allergieprävention mög- lich, sie sind aber nicht nachgewiesen.“ (Koletzko et al 2016).
Allergieprävention ist kein Grund, vor sechs Monaten mit Beikost zu beginnen.
Beikost-Beginn in den Handlungsempfehlungen von „Gesund ins Leben“
In Deutschland sollen die Säuglinge dennoch schon früher Beikost bekommen. In den Handlungsempfehlungen heißt es, “Beikost sollte frühestens mit Beginn des 5., spätestens mit Beginn des 7. Monats eingeführt werden.“ (Koletzko et al 2016). In der weiteren Umsetzung liegt die Betonung auf „Beginn des 5. Monats“: Die grafi- sche Darstellung „Ernährungsschema ab dem 5. Monat“ zeigt ohne wenn und aber den ersten Brei zu Beginn des 5. Monats und zu Beginn des 7. Monats bereits drei Breimahlzeiten mit nur noch wenig stillen (Gesund ins Leben 2018). Damit wird der Beikostbeginn am Anfang des 5. Monats auf jeden Fall optisch als Norm gesetzt.
Entspanntes ausschließliches Stillen bis 6 Monate wird systematisch entmutigt und erschwert.
Obendrein wird die Beikost in den Handlungsempfehlungen auf „Breikost“ reduziert und die Säuglinge werden mit Löffel im Mund dargestellt. Pürierstab und Löffel sind recht neue Erfindungen. Sie können nützlich sein, ihr Einsatz bei der Beikost ist je- doch nicht zwingend. Seit Jahrmillionen ist es den Familien gelungen, den Übergang vom Stillen zum Familienessen erfolgreich zu gestalten, mit sehr unterschiedlichen Ernährungsformen und ohne Löffel (Palmer 2009).
So wie gesunde Säuglinge von Geburt an in der Lage sind, selbständig die Brust zu suchen und ihre Milchaufnahme selbst zu regulieren, können sie diese Fähigkeit beim Essen der Beikost weiter einsetzen (Rapley et al 2015). Es gibt keine Nachwei- se dafür, dass ab dem 5. Monat mit dem Löffel gefütterte Säuglinge als Jugendliche und Erwachsene gesünder wären und ein gesünderes Essverhalten zeigen würden als Säuglinge, die nach 6 Monaten mit Erreichen der Beikostreife eigenständig von dem angebotenen Essen gegessen haben. Auch das Risiko des Verschluckens un- terscheidet sich nicht (Fangupo et al 2016). Die Handlungsempfehlungen sollten sich von ihrer Fixierung auf Brei und Löffel lösen.
In den letzten 20 Jahren ist die durchschnittliche Stilldauer in Deutschland (bezogen auf die Mütter, die überhaupt mit Stillen angefangen haben) unverändert bei 7,5 Mo- naten geblieben (vdLippe et al 2014). Die Beikostempfehlung von „Gesund ins Le- ben“ begünstigt frühe Reduzierung des Stillens und damit der Stilldauer.
Beikostprodukte als Wirtschaftsfaktor
Ob Beikost zu Beginn des 5. Monats oder nach einem halben Jahr eingeführt wird, macht für die Babynahrungsindustrie einen deutlichen Unterschied. Zu Beginn des 5. Monats ist nur pürierte Kost möglich – und damit in der Regel Gläschen. Bei Beikost- beginn nach einem halben Jahr fangen viele Eltern gar nicht mehr mit Gläschen an. Wer früher mit Beikost beginnt, stillt erfahrungsgemäß meistens auch früher ab – das verbessert den Absatz der Folgemilchen. Bei rund 700.000 Neugeborenen pro Jahr und rund 1 € pro Gläschen pro Tag können an den 60 Tagen zwischen Beginn 5. und Beginn 7. Monat bis zu 40 Mio € Umsatz gemacht werden. Hinzu kommen weite- re vielleicht 40 Mio € für die Gläschen in den kommenden vier Monaten bei der Hälfte der Familien, die bei späterem Beikostbeginn keine Gläschen benutzt hätten. Für zwei zusätzliche Monate Folgemilch für vielleicht ein Drittel der Kinder bei zwei Fläschchen pro Tag mit ca. 28g Pulver pro Flasche und einem Kilopreis zwischen 8 und 24 € kommt noch mal ein Umsatzplus von ca. 15 Mio € dazu. Das jährliche Um- satzplus beträgt damit grob geschätzt über 90 Mio Euro.
Es gibt ein starkes finanzielles Motiv, die Stillempfehlungen zu beeinflussen. Die Inte- ressen der Industrie stehen dabei im Gegensatz zu den Gesundheitsinteressen. Deshalb sollten beide Interessenbereiche personell getrennt werden. Wer von der Babynahrungsindustrie oder ihren Instituten (wie z.B. dem „Nestlé Nutrition Institute“) Aufträge, Honorare oder Sponsoring bekommt, sollte nicht in Gremien sitzen, die über allgemeine Stillempfehlungen entscheiden. (s. auch Lempert et al 2015, Lieb et al 2011).
Zusammenfassung
Sechs Monate ausschließliches Stillen empfehlen und ermöglichen, für den Beikost- beginn das Augenmerk auf die Beikostreife legen, offen sein für vielfältige Vorge- hensweisen bei der Beikost, das Weiterstillen neben angemessener Beikost bis zum Alter von zwei Jahren oder darüber hinaus unterstützen: Das alles zusammen nützt der Gesundheit von Kindern und Müttern und nimmt Druck von den Familien (und unterstützt auch damit die Gesundheit).
Literatur
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